von Hamid Mohseni, deutsch-iranischer freier Journalist in Berlin, seit der iranischen Protestwelle 2009 in verschiedenen Solidaritätsnetzwerken aktiv
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Es knallt im Iran. Millionen haben sich auf den Straßen zu Anti-Regierungsprotesten zusammengefunden. Zwanzig Menschen sind ums Leben gekommen, es gab weit über 1700 Festnahmen. Aber die Dynamik bleibt ungebrochen. Im Gegensatz zu 2009 birgt diese Bewegung deutlich mehr Potential, denn die „No Future“-Generation im Iran hat – ähnlich wie hier in Europa – nichts zu verlieren und ist bereit, alles zu riskieren.
Im Iran gibt es ein Sprichwort: Ungefähr alle dreißig Jahre gibt es einen Regimewechsel. 1979 hat eine massenhafte Revolution den Shah zum Teufel gejagt, bevor die Islamisten um den ersten obersten Religionsführer Khomeini die Macht im Staat gewaltvoll an sich rissen und die Islamische Republik Iran (IRI) errichteten. Genau 30 Jahre später, im Jahre 2009, sah sich das Land mit der letzten großen Protestwelle, die vom „reformistischen“ Flügel der iranischen Realpolitik orchestriert wurde, konfrontiert. Diese Bewegung gab nicht nur den Reformist*innen, sondern all denjenigen berechtigte Hoffnung, die sich eine fundamentale Veränderung der iranischen politischen Verhältnisse wünschten. Am Ende jedoch wurde weder der damalige umstrittene konservative Präsident Ahmadinedjad, noch der jetzige oberste Religionsführer Ali Khamenei, geschweige denn die Prinzipien der Islamischen Republik abgesägt. Die Bewegung wurde niedergeschlagen. Ist damit also der Zyklus der Rergimewechsel im Iran durchbrochen? Die letzten Ereignisse geben uns Hoffnung, dass sie nur verzögert wurde. Denn die jetzige Bewegung – sicherlich noch in ihren Kinderschuhen – hat aufgrund wesentlicher Unterschiede zur letzten Reformbewegung 2009 deutlich mehr Potential. Sie lässt die Elite der Islamischen Republik zittern und gibt all denjenigen von uns, die die Islamische Republik abgeschafft und die Menschen im Iran in Würde und Freiheit leben sehen wollen, Grund zum Optimismus.
Doch bevor wir zu den Unterschieden der Bewegungen kommen, in aller Kürze: Was geht im Iran derzeit vor sich?
Wir erleben momentan die Transformation einer sozialen Revolte in eine sich immer weiter radikalisierende soziale Bewegung, die sich über das gesamte Land erstreckt. Es handelt sich um die größte Protestwelle seit acht Jahren. Das Motto kann unter dem Schlachtruf „Brot, Arbeit, Würde, Freiheit“ zusammengefasst werden – und viele der Massen in den Straßen verlangen darüber hinaus nichts weniger als das Ende der Islamischen Republik als solche.
Die Ursachen dieser Revolte sind vielschichtig und reichen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. In den gängigen Nachrichten hört man, dass der eskalierende Eierpreis und Arbeitslosigkeit das Fass zum Überlaufen gebracht haben. In der Tat ist die Inflation im Iran desaströs und gemeinsam mit einem strikten Austeritätsprogramm übersteigt sie deutlich das Niveau der Löhne und Einkünfte. In vielen Fällen sorgen diese Faktoren dafür, dass nicht nur die Erwerbslosen, sondern auch die massenhaft prekär Beschäftigten Iraner*innen am Rande des Existenzminimums leben. Daher gibt es schon seit einer längeren Zeit im Iran Unruhen: die staatliche Organisation Isargara zählt über 1700 soziale Protestaktionen zwischen März 2016 und jetzt – von wilden Streiks der Fabrikarbeiter*innen über Aktionen von Renter*innen und Beschäftigte im öffentlichen Dienst – und das trotz drakonischer Strafen für jegliche (basis-)gewerkschaftliche Organisation und dergleichen. Das Ende der schmerzhaften UN-Sanktionen brachte die lang ersehnte ökonomische Erholung allenfalls für einige korrupte Mullahs und ihrem ökonomisch-militärischem Komplex, den Revolutionsgarden.
Der Kampf ums ökonomische Überleben ist mitnichten das einzige Problem der Menschen im Iran. Die autoritäre Zuspitzung unter Ahmadinedjad wurde durch den derzeitigen Präsidenten Rouhani, der als Reformist, zumindest als moderater Politiker gilt, nicht wesentlich entschärft. Der gewaltsame Zugriff der Sippenwächter auf das alltägliche Leben, insbesondere auf das der Frauen und alternativer, junger Menschen, die Hinrichtungen im Namen Allahs sind keinesfalls zurückgegangen. Die Luftverschmutzung ist insbesondere in Großstädten so schlimm, dass einige Viertel zu bestimmten Zeiten nur mit einer Gesichtsmaske zu ertragen sind. Last but not least sind viele Iraner*innen wutentbrannt, dass die expansionistische und um Hegemonie in der Region ringende IRI ideologisch verwandte Kämpfe in der Region wie in Palästina und im Libanon mit Milliarden von Dollar unterstützt, aber nicht einen Pfifferling auf das Elend der Menschen im eigenen Land gibt.
Aber was ist jetzt anders als im Vergleich zu 2009, dem Jahr der letzten Revolte, die scheiterte?
Der Charakter des Protests und worum es im Kern geht. 2009 war ein genuin politischer Protest in dem Sinne, dass sich der Konflikt durch die Lager der iranischen Realpolitik zog. Er wurde vom und um den „reformistischen“ Flügel und dessen damaligen Präsidentschaftskandidaten Mousavi aufgezogen – demselben Mousavi übrigens, der Ende der 80er Jahre zur Zeit der Massenhinrichtungen von 40.000 politischen Oppositionellen Premierminister unter Khomeini war. Aber zum Elend des iranischen Reformismus kommen noch. Der Kern dieser Bewegung bestand jedenfalls darin, auf die Wahlen innerhalb eines autokratischen und totalitären Staates zu setzen. Die Reformisten wollten innerhalb der Islamischen Republik die Macht übernehmen und – falls möglich – an einigen Schräubchen drehen – all das ist hervorragend kompatibel mit den Grundpfeilern der Islamischen Republik, die ähnliche Veränderung beim letzten reformistischen Präsident Khatami 1997 tolerierte.
Die aktuelle Ausgangslage steht gegenüber der von 2009 auf dem Kopf. Die Reformist*innen befinden sich in Form von Rouhani an der Macht – doch die Probleme sind geblieben, haben sich unter Umständen sogar verschlimmert. So ist es auch zu erklären, warum die Forderungen und Parolen dieses Jahr existentieller sind und der Konflikt, der Widerspruch, ein fundamentalerer ist. Es geht nicht darum, aus zwei Strömungen innerhalb der herrschenden Klasse auszuwählen, es geht gegen die herrschende Klasse als solche. Tatsächlich wurde sogar die erste Kundgebung am 28.12.2017 in der Stadt Mashad vom konservativen Hardliner und Rouhani-Konkurrenten Raisi organisiert – doch die Hegemonie über den Protest entglitt ihm schnell. Denn die Menschen haben es satt, als Verhandlungsmasse zwischen Konservativen und Reformisten der iranischen Realpolitik instrumentalisiert zu werden – schließlich gelang es keinem dieser beiden politischen Lager, die grundlegenden Probleme der Menschen in Angriff zu nehmen. Diese Haltung wurde während eine der ersten Demonstrationen an der Teheraner Universität in der folgenden Parole auf den Punkt gebracht: „Reformisten oder Konservative – das Spiel ist aus“.
Das Subjekt des Aufstands. Die 2009er-Bewegung wurde in ihrem Kern von der urbanen, gebildeten Mittelklasse geprägt, die nicht existentiell im materiellen Sinne litt, sondern hauptsächlich ideologisch. Sie hatten – völlig zu Recht – die Nase gestrichen voll von der aggressiven, autoritären Formierung unter Ahmadinedjad, dessen Regierung massiv grundlegende demokratische Rechte wie die Presse-, Versammlungs, und Meinungsfreiheit usw. angriff. Er manövrierte den Iran in eine mehr und mehr federführende Rolle innerhalb der Opposition zum globalen Westen (der im Übrigen trotz all dem Gehabe um Sanktionen und Lippenbekenntnisse nicht müde wurde, fleißig Business mit der IRI zu betreiben) und mobilisierte das Land und regionale Verbündete als Antithese zum Westen in eine Art „antiimperialistischen Block des 21. Jahrhunderts“. Während es Ahmadinedjad gelang, die unteren Klassen unter Anrufung auf ihre nationale Identität zu befrieden, wollte die Mittelklasse an der Globalisierung innerhalb der westlichen Welt teilhaben – aber nicht den Iran revolutionieren. Sie steckten dementsprechend ihre Hoffnung in den reformistischen Präsidentschaftskandidaten und wählten den parlamentarischen Weg, der, wie auch immer, ein strukturelles Problem darstellt in einem totalitären Staat, wo der oberste Religionsführer alle Präsidentschaftskandidaten absegnen muss.
Dieser Tage revoltiert eine ganz andere soziale Gruppe bzw. andere soziale Gruppen in den Straßen: die hauptsächlich jungen, unteren Klassen, die (prekarisierten) Arbeiter*innen, die Nicht-Repräsentierten, aber auch Studierende (die in jeder großen Bewegung im Iran dabei sind) – von großer Bedeutung ist zudem die Beteiligung einer der aktivsten und erfolgreichsten Bewegungen im Iran, die der fortschrittlichen Frauen, die auch dieses Jahr an vorderster Front mitmischen. Die meisten aus diesen Gruppen, die einen immensen Teil der iranischen Gesellschaft ausmachen, haben keinerlei Perspektiven, keine Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft. Sie wollen ein Leben in Würde, sie möchten etwas zu Essen, sie wollen arbeiten um grundlegende Bedürfnisse erfüllen zu können und sie sind frustriert über die religiös-herrschaftliche aufgeladene Rechtfertigung ihres Elends. Sie haben – im Gegensatz zur Mittelklasse 2009 – nichts mehr zu verlieren und die Mentalität, alles zu riskieren. Ein junger Mann aus dem Süden des Landes sagt während der Revolte: „Ich lebe mit meinen Eltern und wir können uns kaum eine Mahlzeit für alle leisten. Ich kann keine Arbeit finden. Was wollen sie machen? Ich habe keine Angst vor ihnen. Ich habe nichts zu verlieren.“ Es ist erstaunlich, wie dieser Satz in der exakt selben Formulierung von der (süd-)europäischen Jugend stammen könnte, die in einer anderen sozio-ökonomischen und kulturellen Realität leben, aber den selben Problemen ausgesetzt sind: sie werden nicht repräsentiert, in Augen der Herrschenden sind sie überflüssig und entbehrlich – und werden unregierbar.
Die Bestimmtheit und der Symbolismus des Protests. Vergegenwärtigt Euch folgendes: Der gesamte Repressionsapparat des Iran ist eine der fortgeschrittensten und brutalsten der Region, wenn nicht der Welt. Neben der Polizei sind vor allem die besser organisierten, wichtigeren und brutaleren Revolutiongarden – und ihr inoffizieller, paramilitärischer und von Khomeini höchstpersönlich gegründeter Arm, die „Bassidj“ Milizen – zu nennen. Vor dem Hintergrund braucht es schon eine besondere Portion Mut, schon allein friedlich zu demonstrieren. Schließlich gibt es praktischer keine Versammlungsfreiheit, vor allem nicht, wenn man sich gegen die Regierung wendet. Und noch beeindruckender ist es, welche Parolen die Menschen dieser Tag im Iran rufen. Religiöse Slogans sucht man vergebens. Dies unterscheidet die Bewegung von der 2009er-Bewegung, als „Allahu Akbar“ (Gott ist groß) eine der zentralsten Parolen war, um eine Art Loyalität mit den Grundpfeilern der Islamischen Republik auszudrücken. Keine Spur davon dieses Jahr. Im Gegenteil hört man neben massenhaften „Nieder mit Rouhani!“- und “Nieder mit dem Diktator”-Rufen vor allem “Mullahs, haut ab!”, sogar „Nieder mit Khamenei“ und schließlich „Nieder mit der Islamischen Republik“ – diese Slogans reichen als Anhaltspunkt zur Strafverfolgung unter dem „Mohareb“-Paragraphen (Sünde gegen Gott), worauf die Todesstrafe steht. Im Anklang an die Revolution 1979 sowie der westlichen, republikanischen Revolutionen fordern die Demonstrant*innen auch „Unabhängigkeit, Freiheit – Iranische Republik“ und bringen auch so die Ablehnung der IRI zum Ausdruck.
Die Menschen auf den Straßen des Iran scheinen sich Tag für Tag weiter zu radikalisieren. Sie lassen sich nicht von der Polizei vertreiben. In vielen Fällen überwältigen sie die Anti-Riot-Einheiten und zünden deren Autos und Wachen an. In den Videos erkennt man ein kollektives Bewusstsein füreinander und die Dringlichkeit, Unbeteiligte nicht zwischen die Schusslinien zu bringen. Die Ziele direkter Aktionen sind mit Bedacht gewählt: sie richten sich gegen besagte Polizeiautos und –wachen, Banken, örtlichen Behördengebäude und dem Eigentum der Revolutionsgarden. Flächendeckend werden Plakate mit dem obersten Religionsführer Khamenei sowie die Fahne der IRI verbrannt. Eine der wichtigsten Zeichen für säkularen und fortschrittlichen Protest ist die Präsenz und aktive Einbringung von Frauen, von denen sehr viele ihr Hijab herunterreißen. Eine junge Frau, die ihren Zwangsbedeckung in eine Fahne umgewandelt hat, wurde so zum Symbol dieser Bewegung.
Die Geografie des Protestes. Anders als noch im Jahre 2009, sind die Akteure der derzeitigen Revolte nicht beschränkt auf die relative kleine urbane Mittelklasse in drei bis vier Großstädten, sondern im ganzen Land verteilt. Die iranische Gesellschaft ist sehr heterogen – 60% macht die persische Mehrheit aus, die schon häufig in der Geschichte sehr gewaltvoll die alleinige Hegenomie auf die Nationalität „Iraner*in“ beansprucht haben. Darüber hinaus gibt es zahlreiche kleinere und größere ethnische, kulturelle und religiöse Minderheiten, wie die Azeris, die Kurden, die Luren, die Baha’i usw. 2009 gab es ein letztendlich entscheidendes Problem: diese Minderheiten wurden praktisch nie erreicht, denn es gelang der Reformbewegung zu keinem Zeitpunkt überzeugend darzulegen, dass sie es mit dem Schutze und dem Wohl der Minderheiten ernster meinten als konservative Regierungen. Kein Wunder, denn dieser essentiell wichtige Beitrag zur Verbesserung des Lebens aller Iraner*innen war nie im Programm vertreten.
Die diesjährigen sozialen Proteste bevorzugen keine Identität, sondern sind sehr existentiell und betreffen alle. Während 2009 noch massiv rund um Teheran und Isfahan organisiert waren, startete dieser Protestzyklus im Nordwesten (nah an der Grenze zu Kurdistan) und schwappte dann erst auf Teheran und 70(!) weitere Städte und Ortschaften im ganzen Land über, inklusive der von Minderheiten besiedelten Regionen wie Khuzestan, Kermanshah und Kurdistan. Dies ist eine landesweite Bewegung von Millionen, sie betrifft und umfasst einen Großteil der Gesellschaft, was 2009 nicht gelang.
Die Organisation der Bewegung. Die Reformbewegung von 2009 war eine klassisch politische Bewegung mit einem recht engstirnigen Katalog an Forderungen und – von großer Bedeutung – mit klaren Anführern. Mousavi und seine Ehefrau Zahra Rahnaward und der stellvertretende Kandidat der Reformist, Karroubi, haben sich nicht nur selbst als Führer inszeniert, sondern wurden von der Bewegung auch als solche angerufen. Sie und ihrer Beraterstab waren verantwortlich für das Programm sowie für die Choreographie der Bewegung – und es waren natürlich ebenfalls sie, die darüber entschieden, was gefordert und was nicht, d.h. was zu radikal war. Aber in einem totalitären Staat, ist diese top-down-Organisationsform nicht nur aus ideologischen, sondern schon aus pragmatischen Gründen fatal. Als der Staat bereit war, verhängte er Haftstrafen und Hausarrest gegen die Anführer und versetzte der Bewegung einen sensiblen Schlag. Einfaches Spiel. Die Bewegung kam nicht sofort zum Erliegen, aber sie wurde sprichwörtlich kopflos.
Die diesjährige Bewegung ist deutlich dezentraler und zeugt von mehr Selbstorganisierung. Die Menschen aus unterschiedlichen Ortschaften und Städten koordinieren sich übers Internet und durch ebenfalls im Internet zirkulierende Aufnahmen halten sie sich gegenseitig up to date. So ist es ihnen möglich, sich aufeinander zu beziehen. Meistens kommen die Demonstrant*innen nach der Schule bzw. nach der Arbeit – wenn es dunkel wird – zusammen, diskutieren über Leben und Politik (in solch einer Situation nicht voneinander zu unterscheiden), dann rufen sie Parolen und üben sich ggf. in zivilem Ungehorsam oder anderen direkten Aktionen – und anschließend verschwinden sie. Ein Kommen und Gehen, ein Hit and Run. Gewiss, es gibt Angriffe der Sicherheitskräfte, Festnahmen, Menschen werden getötet. Nichtsdestotrotz lassen sich die Demonstrant*innen nicht einschüchtern und tauchen Abend für Abend auf, mit einer gewissen Ruhe. Diese Art der Spontanität, der Selbstbestimmung kennt und duldet eine genuin politische Bewegung wie die von 2009 in der Regel nicht. Für den Staat gibt es dementsprechend (noch?) keine hervorstechenden Figuren auszuschalten, das macht es schwer, diese Bewegung aufzuhalten.
Reaktionen innerhalb des Staatsapparates und Perspektiven der Bewegung. Der Staatsapparat hat lange gezögert, doch allmählich bezieht er klare Stellung. Nachdem die Proteste sich so flächendeckend ausweiteten und nicht mehr zu ignorieren waren, begann die staatliche Propaganda mit seinen üblichen Beschuldigungshypothesen: wahlweise seien Terrorist*innen, Agent Provocateurs, Ausländer*innen oder irgendwelche anderen Genger*innen für die Revolte verantwortlich. Unterdessen gibt es Berichte, dass einige Soldat*innen und Polizist*innen Befehle zur Unterdrückung der Proteste verweigern und ihr Amt niederlegen. Zudem gibt es den Versuch, die Proteste von konservativer Seite zu highjacken, indem beispielsweise massiv „Allahu Akbar“-Rufe über Lautsprecher gerufen werden – allerdings wurden all diese Versuche eingedämmt. Jüngste, regimetreue „Machtdemonstrationen“ waren deutlich kleiner als erwartet. Allerdings hat der Staat noch nicht alle Repressionsregister gezogen. Nichtsdestotrotz: Die Revolutionsgarden und die Bassidj-Milizen formieren sich nun vermehrt in den Großstädten, aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, zeitgleich die Provinzen abzudecken. Die Reformisten, gefangen in ihrem hoffnungslosem Elend diesen totalitären Staat mit einem eigenen Präsidenten zu transformieren, werden sich aller Voraussicht nach als Komplizen der Konservativen erweisen und sich in einer „Einheit der Vernunft“ aus derer, die die Islamische Republik erhalten wollen, gegen diese Bewegung positionieren.
Demgegenüber steht aber ein weiterer, großer Unterschied zur Bewegung 2009: es muss deutlich mehr passieren, bis die Menschen sich fürchten und zu Hause bleiben. Sie sind hungrig, arbeitslos oder in einem Job, der sie ins gleiche Elend wie die Arbeitslosen stürzt, sie haben die Islamische Republik satt und sie haben keine Zukunft. Der Zahl der Getöteten ist relativ deutlich höher als 2009 (2009: 60-70 Tote nach sechs Monaten, jetzt: mehr als 20 Tote nach 7 Tagen), aber auch das hindert die Demonstrant*innen nicht daran, Abend für Abend die Straße aufzusuchen. Genau das macht sie gefährlich und unberechenbar und so fällt es dem Staat auch aus politischen Gründen schwer, diese Bewegung repressiv niederzuschlagen. Der Repressionsapparat der IRI verfügt sicher über genug Personal und Material, aber derzeit sie fürchten einen Imageschaden durch eine noch tödlichere Eskalation des Konflikts.
Das Elend des iranischen Reformismus. Die Reformisten sind wenn überhaupt vereinzelt Teil dieser Bewegung – viele jedoch stehen ihr bereits jetzt schon feindlich gegenüber. Zunächst einmal, weil sie den Präsidenten zu ihren eigenen Reihen zählen: als er gewählt wurde – so verzweifelt sind sie – feierten sie das als einen Sieg. Aber Rouhanis Amtszeit erwies sich als mehr als desaströs und als ein weiteres Zeichen, dass Reformismus innerhalb der IRI keine Option sein kann.
Im Anblick der jetzigen Proteste würde ich sogar weiter gehen und behaupten, dass die falschen Versprechen der Reformist*innen und die dazu im eklatanten Widerspruch stehenden Fakten ein maßgeblicher Faktor für die Wut und die Eskalation sind. Im völligen Gegensatz zu seinen Wahlversprechen besteht Rouhanis Kabinett signifikant aus konservativen Politiker*innen – seiner Ankündigung, Frauen oder Vertreter*innen der zahlreichen Minderheiten im Iran ins Kabinett zu berufen, blieb er ebenfalls nicht treu. Dieses Kabinett war eine Liebeserklärung an den obersten Religionsführer. Im Wahlkampf agitierte Rouhani gegen die Revolutionsgarden und ihre Machenschaften, nun scheint er nicht genug zu kriegen von seinen Anbiederungen ihnen gegenüber: er wird nicht müde, eine „Bruderschaft“ mit ihnen zu beschwören. Weiterhin wurde geleaked, dass Milliarden des Regierungsbudgets in religiös-verwandte Projekte außerhalb des Landes investiert wurden – aber nichts davon half den Menschen in sozialer Not im Iran selbst. Hat er denn wenigstens die Hinrichtungsrate eingedämmt? Nein, auch das hat er nicht. Kein Wunder, dass vor zwei Monaten eine Kampagne mit dem Titel „Ich bereue es“ viral ging, in der Menschen und Berühmtheiten (wie der iranische Fußballstar Ali Karimi) ihre Enttäuschung über den iranischen Reformismus zum Ausdruck brachten.
Der Reformismus, sein falsches Versprechen und seine historisch kontinuierliche, fatale Zusammenarbeit mit den Konservativen und Hardlinern – und über all dem der Versuch, das als “kleineres Übel” zu verkaufen – ist eine Ursache für das Elend im Iran und warum es jetzt überall knallt. Er verdient nichts weniger als das.
Was können wir hier tun?
Solidarität organisieren. Wir wissen aus vielen Quellen aus dem Iran, dass es für die Menschen in der Bewegung überlebenswichtig ist, dass ihr Kampf nicht in Vergessenheit gerät. Dadurch stärkt man sie nicht nur in der Berechtigung ihres Anliegens, das Ganze hat auch einen politisch-strategischen Wert: die lachhafte Aufmerksamkeit um ein Tweet des US-amerikanischen Ahmadinedjads, Donald Trump, in der er die Islamische Republik zur Einhaltung von Menschenrechten mahnt (welch eine Ironie), lässt die IRI zweimal darüber nachdenken, die Demonstrant*innen massenhaft niederzuschießen. Gleichzeitig ist die IRI hochprofessionalisiert darin, Kommentare wie diese in FakeNews umzuwandeln und damit ihre Verschwörung von ausländisch gelenkten Protesten zu unterfüttern – das ist ein wichtiger ideologischer Moment zur diskursiven Hegemonie über die Ereignisse. Nichtsdestotrotz sollten wir uns dadurch nicht – niemals, von keinem Regime –den Mund verbieten lassen, Solidarität mit einem Kampf auszuüben, den wir unterstützen. Wenn es in ganz Europa oder auf der ganzen Welt Solidaritätsaktionen gibt, beunruhigt das die Eliten der IRI noch ein wenig mehr – selbst, wenn sie Gegenteiliges behaupten.
Über Solidaritätsbekundungen hinaus ist in einer globalisierten Welt wie unserer der Kampf im Iran hier mit uns verbunden. Ein Blick auf die lange Liste derjenigen Firmen – Sanktionen hin oder her – zeigt, wie fleißig das europäische Kapital Buiseness und Profit mit der IRI macht. Der Kampagne „Antifa Teheran“ aus dem Jahre 2009/2010 zufolge, ist es erstaunlich wie viele Unternehmen in Europa nicht nur harmlose Handelsrouten mit dem Iran betreiben, sondern wie zum Beispiel insbesondere deutsche und britische Firmen Know-How und Material für die iranischen Aufstandsbekämpfung bereitstellen. Es gibt viele Wege, sich solidarisch zu zeigen. Nutzt sie und zögert nicht zu klären, womit ihr solidarisch seid – und womit nicht. Die Community der Exiliraner*innen ist sehr politisch und umfasst fast alle Strömungen, teilweise sehr gut organisiert: sämtliche linke und kommunistische Organisationen, Mudjaheddin, Nationalist*innen, Neoliberale, Monarchist*innen.
Lasst uns nicht vergessen: Die regionale und geopolitische Bedeutung des Irans liegt auf der Hand. Und dass die Menschen im Iran – wie überall – etwas deutlich besseres als die super-autoritäre, klerikale IRI verdienen, auch. Von der Geschichte der Kämpfe her gedacht: die iranische Protestbewegung 2009 läutete eine Zeit der globalen Bewegungen ein, die sich von den arabischen Ländern bis über die USA und den Plätzen Europas ausbreitete – klar, nicht immer gelang die Rebellion und natürlich gab es nicht immer direkten Bezug auf die Geschehnisse im Iran. Aber nun, nach der furchtbaren, weltweiten Formierung rechter und autoritärer Blöcke, müssen wir wieder an der Reihe sein. Und Iran kann – wieder – der Anfang sein.